Routenplanung mit Tidenstrom

Mein Plan war es, das Schiff von der Ostsee nach Nordspanien zu segeln. Als Ostseesegler habe ich gehörigen Respekt vor dem Segeln in Gezeitengewässern. Entsprechend wichtig ist mir eine gute Vorbereitung.

Hier ein Video mit der Übersichtsplanung.

Auf der Strecke von Cuxhaven nach Brest sind im englischen Kanal und an den Küsten der Normandie und der Bretagne einige Stellen zu passieren, in denen der Tidenstrom – besonders zur Springzeit – ganz locker 4 kn oder sogar weit mehr kn erreichen kann. Solche Stellen will ich nicht bei Wind gegen Strom oder anderen ungünstigen Konstellationen passieren und deshalb diese Passagen zeitlich entsprechend einplanen. Konkret: Cap Griz-Nez möchte ich bei maximal mitlaufendem Strom, die wildesten Passagen bei Cap de la Hague und den Chenal du Four bei Stillwasser passieren.

Am Beispiel von Cap Griz-Nez – der engsten Stelle im Ärmelkanal mit einem Gezeitenstrom von bis zu 4 kn – würde ich es so machen, dass ich – von Scheveningen kommend – mit beginnendem ablaufenden Wasser in Höhe Dunkerque eintreffe und dann die folgenden etwa 40 Seemeilen bis Boulogne Sur Mer mit ablaufendem Wasser, also mitlaufendem Strom segeln kann. In Boulogne will ich in den Hafen gehen, dort das auflaufende Wasser abwarten, eine Mütze Schlaf nehmen und dann mit ablaufenden Wasser weiter segeln.

Die Frage ist also: wann muss ich von Scheveningen starten, um rechtzeitig mit Beginn des ablaufenden Wassers Dunkerque zu passieren und dann mit ablaufendem Wasser und möglichst hoher Geschwindigkeit über Grund die Passage des Ärmelkanals über Cap Griz-Nez bis Boulogne zu schaffen, bevor das Wasser wieder beginnt aufzulaufen.

Für mich als einfach gestrickten Ostseesegler scheint es zunächst naheliegend, dass ich kurz vor Hochwasser in Dunkerque eintreffen müßte und dann gute 6 h Zeit hätte, um die folgenden ca. 40 Meilen bis Boulogne mit ablaufendem Wasser zu segeln und dann mit Niedrigwasser bei Boulogne einzutreffen.

In dieser Überlegung stecken allerdings 2 Fehlannahmen.

Denn zum einen beträgt das Zeitfenster für die Passage nur gut 5,5 h, aufgrund des Zeitunterschiedes  in der Dauer zwischen auf- und ablaufenden Wasser. Das Wasser läuft in dieser Region regelmäßig etwa eine halbe h länger auf, also Richtung NE, als ab, also Richtung SW. Konkret: SW setzender Tidenstrom zwischen Dunkerque und Boulogne läuft nur etwa 5 h 45 m. Ok, diese halbe Stunde kann man sicher auch vernachlässigen.

Viel gravierender ist allerdings der erhebliche Zeitabstand zwischen Hochwasser und dem Einsetzen des ablaufenden Tidenstroms (s. a. Kenterpunktabstand Tidestrom – Lexikon der Geowissenschaften (spektrum.de)). Der Tidestrom beträgt im Ärmelkanal zwischen Dover und Calais lt. Tidal Charts der British Admiralty knapp 4 h, d. h. erst 4 h nach Hochwasser beginnt das Wasser wieder Richtung SW abzulaufen. Der Reeds schreibt zum Kenterpunktabstand vor Cap Griz-Nez, bezogen auf HW Dieppe:

Der Zeitpunkt für Hoch- bzw. Niedrigwasser spielt für die eigentliche Streckenplanung also gar keine Rolle (solange die Zielhäfen tidenunabhängig zugänglich sind), entscheidend ist der Kenterzeitpunkt des Gezeitenstroms in der betrachteten Passage.

So ist beispielsweis am 25.10.2022 um 0145 MESZ HW in Calais, der Gezeitenstrom kentert dort aber erst um 0530 MESZ und beginnt dann wieder Richtung SW zu laufen.

Auch in den Gewässern nördlich der Kanalinseln beträgt der Kenterpunktabstand ca. 4 h. Das sind extreme Besonderheiten an diesen Orten, die man kennen und berücksichtigen muss. An anderen Orten ist der Kenterpunktabstand in der Regel erheblich geringer, z. B. in Cuxhaven nur knapp 1,5 h, aber immerhin.

Wo bekommt man die Strömungsdaten überhaupt her? Da sind zum einen die klassischen Quellen wie Atlas der Gezeitenströme oder Admiralty Tide Tables oder deren verkleinerte Abbildungen in den Papierseekarten oder im Reeds Nautical Almanac. Ich persönlich finde diese Quellen ungenau, risikobehaftet und aufwändig in der Handhabung und bevorzuge eine elektronische Seekarte, in der die Gezeitenströme – genau lokalisiert und bezogen auf die geplante Route und mit Bezug auf die Bordzeit – angezeigt werden.

Wie nun also die Passage planen?

Die Distanz von Scheveningen nach Boulogne beträgt etwas über 130 nm. Springzeit nach Neumond ist am 25.10.2022. Den Start plane ich für den 26.10. am Nachmittag mit geplanter Ankunft vor Boulogne kurz vor Kenterung des Tidenstroms am 27.10. um 11:18 Uhr.

Der Routenplanungsassistent des Navigationsprogrammes „timezero“ ermittelt bei einen angenommenen Bootsgeschwindigkeit von durchschnittlich 6 kn (STW) und unter Berücksichtigung des Tidenstroms, nicht aber des Streckenwetters, eine Reisedauer von 21 h und 16 m. Dabei ist die Passage von Cap Griz-Nez im Abschnitt zwischen Dunkerque und Boulogne bei SW setzendem ablaufenden Wasser mit Strömungsgeschwindigkeiten von teilweise bis zu 3,5 kn berechnet: Legs 11 und 12 mit Durchschnitts SOG von 8,8 kn.

Wenn man die Gegenprobe macht und die Abfahrtszeit am 26.10.22 auf 04:20 Uhr setzt, berechnet der Routenassistent unter Berücksichtigung des Gezeitenstroms eine Reisedauer von 23 h 54 m.

Über die gesamte Strecke beträgt der Zeitunterschied zwischen beiden Varianten 02 h und 38 m mehr. Bezogen auf die Legs 10 -12 (ca. 40 nm im Abschnitt Dunkerque bis Boulogne) beträgt der Zeitunterschied immerhin noch 2 h 9 m. Auf dem 12 nm langen Abschnitt (Leg 11) zwischen Calais und Cap Griz-Nez läuft der Strom in der günstigen Variante mit 3,5 kn mit, während er in der ungünstigen Variante mit 3,5 kn gegenan läuft. Ich finde es schon beeindruckend, wie stark sich die Varianten in der Reisezeit unterscheiden und es scheint mir sinnvoll hier sorgfältig zu planen. Wer sich schon mal stundenlang gegen eine Strömung von teilweise mehr als 3 kn voran gequält hat und das womöglich bei einer „Wind gegen Strom“ Situation weiß, was ich meine.

Klar, über eine Distanz von 90 nm und ca. 15 h Fahrzeit muss man immer damit rechnen, dass man nicht exakt zum geplanten Zeitpunkt eine Punktlandung bei Dunkerque machen kann. Die angenommene Durchschnittsgeschwindigkeit von 6 kn (STW) kann sich durch widrige oder besonders günstige Umstände sehr schnell als falsch erweisen: wenn der Wind günstig steht, läuft das Schiff ohne Probleme dauerhaft 7 – 7,5 kn. Es ist also in jedem Fall kurz vor dem Start der Passage auf Basis der aktuellen Vorhersage nochmal ein genaues Wetterrouting erforderlich. Sollte trotzdem die Ankunftszeit bei Dunkerque aufgrund ungeplanter Umstände so ungünstig sein, daß ich bei der Passage von Cap Griz-Nez überwiegend mit Gegenstrom rechnen muss, würde ich kurz nach Dunkerque reingehen und die Kenterung des Tidenstroms abwarten.

Die Erkenntnis über den teilweise erheblichen zeitlichen Abstand zwischen HW bzw. NW und dem Kentern des Gezeitenstroms war für mich schon sehr erhellend und ich bin froh, dass ich dies bei meiner Planung entsprechend berücksichtigen konnte.